Der Artikel wurde am 03.07.2023 aktuallisiert oder erweitert.
Habt ihr schon einmal erlebt, dass ihr in scheinbar harmlosen Situationen plötzlich verbal aggressiv werdet, gereizt seid oder völlig überfordert reagiert? Vielleicht habt ihr auch beobachtet, dass autistische Kinder unerwartet beißen, kratzen oder schlagen – und das gegenüber unbeteiligten Personen? Es ist selten möglich, die genauen Ursachen dafür als Außenstehender zu erkennen. Doch es gibt einen Grund, der alle Autistinnen und Autisten, egal ob Kind oder Erwachsener, teilen: Es ist einfach zu viel, entschieden zu viel!
Aus eigenen Erfahrungen und aus Gesprächen mit Betroffenen weiß ich, wie es sich anfühlt, wenn man urplötzlich in eine Art Ohnmacht fällt und für außenstehende unerwartet reagiert und zudem noch selbst überrascht ist, was da gerade passiert (meistens). Es sind Situationen, die man selbst nicht gut findet und die man vor allem auch nicht bewusst gesteuert hat.
Wir, weder die Kinder noch die erwachsenen Autisten, wollen so reagieren, oder machen das gar mit Absicht! Doch wenn es für uns zu viel wird, haben wir kaum eine Chance, um in kritische Situationen adäquat zu reagieren, hauptsächlich spüren wir nichts in uns, dass uns sagt, dass etwas zu viel wird.
Gerade Kinder haben zudem an dieser Stelle (noch) kein Bewusstsein, was da in den Situationen der Überlastung passiert und sie haben auch keinen Einfluss auf das, was dann passiert, also die Reaktion! „Es“ kommt über uns, „es“ ist einfach da.
Wir Erwachsene haben häufig die Fähigkeit entwickelt, uns in Situationen, in denen zu viele Informationen hereinprasseln, herauszunehmen und uns zurückziehen zu können. Leider klappt dies nur an Tagen, an denen es uns ausgezeichnet geht und wir nicht müde sind.
„Es“ ist plötzlich da!
Um das Verständnis gerade bei allistischen Menschen an dieser Stelle nochmals zu sensibilisieren: „Es“ passiert einfach ohne Vorankündigung und ohne die Möglichkeit, dass wir die Reaktionen steuern können, „es“ ist einfach da, ohne dass wir darauf Einfluss nehmen könnten. Und wenn „es“ da ist, dann ist es wiederum zu spät.
Aber was ist „es“?
Kinder, egal ob in der Grundschule oder später, wenn sie älter sind, können urplötzlich zu kleinen „Bestien“ werden und es ist schwer, sie unter Kontrolle zu bekommen. Ich habe bereits mehrfach solche Situationen aus meinem Umfeld geschildert bekommen. Hier ist ein Beispiel:
In der Schule wird den Kindern in der Pause eine Regel erklärt: Jeder bekommt eine bestimmte Zeit lang ein bestimmtes Spielzeug und soll es dann an einen anderen Schüler weitergeben. Alle scheinen die Regel verstanden zu haben und empfinden sie als fair.
Doch als der Autist sein Spielzeug abgeben sollte, begann er plötzlich zu schreien und biss seine Mitschülerin, die das Spielzeug – wie vereinbart – haben wollte. Das Kind wollte nicht bewusst beißen oder verletzen, es bereitete ihm keine Freude, sich selbst und seinen Bezugspersonen solche Situationen zuzumuten. Es war dem Kind danach sogar unangenehm.
Viele Autisten drücken später aus, dass sie unglücklich darüber sind, dass sie manchmal ihre Impulse nicht kontrollieren können. Es kommt einfach aus ihnen heraus. In solchen Momenten ist es wichtig, dass Erwachsene und das Umfeld besonders sensibel sind und ein klares Verständnis für die Ursachen entwickeln.
Aber was genau passiert hier? Dies lässt sich anhand der vier Stufen der Überlastung eines Autisten erklären. Überlastung? Aber sind Autisten nicht belastbar? Doch, das sind sie! Mehr dazu später.
Stufe 0: Die Alltags-Situation
Wir sind zum Beispiel in der Fußgängerzone, in der es durch die vielen Menschen sehr laut ist, oder ein autistisches Kind ist in der Schule der dauerhaften Berieselung durch die anderen Kinder und/oder die Lehrer einer Reizüberflutung ausgesetzt.
Wie im Bild zu sehen ist, steigt die sogenannte Reizüberflutung an, was nach wenigen Minuten oder erst nach Stunden einsetzen kann.
Bis dahin nehmen wir die Unmengen an Reizen auf und unser Gehirn versucht diese alle zu verarbeiten. Bitte immer beachten, dass Autisten sehr viel mehr Dinge wahrnehmen können, als allistische Menschen. Ein mehr wahrnehmen geht auch mit mehr Verarbeitung einher.
Stufe 1: Der Overload
Die Stufe 0 geht dann in einen Overload über, der durch ein Übermaß an Reizüberflutung entstehen kann, gerne auch in Kombinationen. Reizüberflutungen können insbesondere das unerwartete Berühren sein, Lärm oder Helligkeit bzw. Hitze, oder aber bei sehr vielen Menschen auch Stress. Jedoch ist die Dosis der Reize zu viel für den Autisten und führt dann zu einem Overload.
Dazu kommt, dass wenn wir Autisten einen Overload erahnen und spüren, dann auch noch meistens keinen Rückzugsort haben, um uns wieder regulieren und entspannen zu können. Eine notwendige Funktion für uns Menschen mit Autismus.
Um Missverständnissen vorzubeugen, der Overload entsteht in einer Welt, die von neurotypischen Menschen gemacht wurde und selbst denen häufig zu viel ist, wie z. B. in einem Einkaufszentrum, in dem durch die ungünstige Bauweise ein lauter Pegel durch den Schall herrscht und dann noch die Musik, die aus jedem Laden heraus wabert und die vielen Menschen zudem noch sehr laut miteinander sprechen.
Erkenn kann man als Außenstehender einen auftretenden Overload übrigens, wenn Autisten mit Selbststimulation beginnen. Das Drücken der Fingerkuppen mit den Fingernägeln, kräftiges Kneten eines Stressballs oder das Massieren des Kopfes mit den Fingern sind einfache Möglichkeiten der Selbststimulation, die uns helfen sollen, uns wieder zu beruhigen.
Stufe 2: Der Meltdown
Wird dann der Overload nicht reduziert (kurz man kann sich dem Stress nicht entziehen und hat keinen Rückzugsort) geht dieser in einen Meltdown über.
Der Meltdown wird oft als Nervenzusammenbruch oder Wutausbruch bezeichnet, doch aus meiner Sicht verharmlost diese Beschreibung die tatsächliche Situation. Deshalb verwende ich lieber den Begriff „Kernschmelze“, da er drastischer verdeutlicht, was wirklich passiert.
Es ist absolut sinnvoll, die äußere Wahrnehmung von uns als betroffenen Autisten von unserem eigenen Befinden zu trennen. Nach außen hin wirken wir oft verstörend. Mögliche Auswirkungen sind Wutausbrüche, Schlagen, Beißen, den Kopf gegen die Wand schlagen oder ein geistiger Rückzug, der einem plötzlichen Verstummen gleichkommt. In uns herrscht jedoch dann ein großes unüberschaubares Chaos, dass wir selbst nicht in den Griff bekommen können.
Ja, manchmal geht ein Meltdown auch mit Selbstverletzung einher. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass dies ein Versuch ist, den Schmerz aus dem Kopf in andere Körperregionen zu lenken oder wieder „angenehmere“ Empfindungen zu erleben.
In solchen Situationen möchten wir Autisten meistens nicht berührt oder in den Arm genommen werden. Es wäre ein weiterer Reiz, der alles noch verstärkt. Bitte vermeidet auch auf uns einzureden, denn auch das ist ein zusätzlicher Reiz. In solchen Momenten ist es am besten, einen Autisten in Ruhe zu lassen und ihm Ruhe zu geben. Jedoch in der Nähe zu sein, um die Veränderungen in der Situation beobachten zu können, kann sehr wohl hilfreich sein. Auf diese Weise kann man auch eher ausschließen, dass Selbstverletzungen stattfinden.
Stufe 3: Der Shutdown
Der Shutdown ist die Notabschaltung. Betroffene liegen oder sitzen da, sind teilnahmslos, weitestgehend nicht mehr ansprechbar. Oder sie liegen im Bett und wippen mit den Füßen und den Händen hin und her. Jeder Autist reagiert hier anders. Entscheidend jedoch ist, wir sind nicht mehr in der Lage, auf etwas einzugehen. Wir sind nur noch mit dem „Überleben“ (= Grundfunktionen im Körper) beschäftigt.
Es kann auch sein, dass die Betroffenen z. B. einen Schüttelfrost bekommen und das Gefühl von hohem Fieber haben. In vielen Fällen ist das „gefühlte“ Fieber jedoch tendenziell eher eine erhöhte Temperatur (z. B. 38,5 °C).
Hier gibt es für Außenstehende exakt nur eine Regel: lasst den Autisten wieder zu sich finden, seid in der Nähe, aber vermeidet jeden noch so kleinen zusätzlichen Reiz, der den Topf wieder zum Überkochen bringen könnte.
Allein sein, manchmal in einem dunklen Zimmer, ANC-Kopfhörer auf … und Ruhe haben, ohne Reize jeglicher Art von Außen. Für Allisten ist es wichtig zu verstehen, dass wir Autisten 20 Reize verarbeiten, während Allisten nur 4 Reize verarbeiten können. Unser Vorteil wird in einer nicht für uns gebauten Welt zum Nachteil.
Gibt uns Zeit, damit wir uns wieder finden.
Delayed After Effekt
Dann gibt es noch den „Delayed After Effect“, der eine besondere Form eines Meltdown ist. Hier sind die Effekte deutlich später nach dem Overload oder Meltdown festzustellen, der nach außen nicht sichtbar war.
Dieses Phänomen tritt nach meinen eigenen Erfahrungen und zahlreichen Gesprächen mit Betroffenen häufig auf, wenn jemand durch Reizüberflutung in einen Overload gerät oder in einen Meltdown geht, jedoch nicht unmittelbar sichtbare Anzeichen dafür zeigt.
Die Auswirkungen bleiben sowohl für Außenstehende als auch für den Autisten selbst zunächst verborgen. Erst wenn sich die Autisten in einer sicheren Umgebung befinden und Geist und Körper dies erkennen, brechen beide zusammen – manchmal sogar viele Stunden später.
Dieses Phänomen ist besonders bei Kindern zu beobachten, die in der Schule zuverlässig funktionieren und dann, sobald sie nach Hause kommen, vollständig eskalieren.
Verwunderte Eltern wenden sich natürlich sofort an die Schule und fragen, was passiert sein könnte. Die Lehrpersonen haben jedoch keine Antwort, denn während des Unterrichts schien alles in Ordnung zu sein und der Autist zeigte keine Anzeichen eines Overloads oder Meltdowns.
Das bedeutet, dass der Effekt eines Overloads oder Meltdowns deutlich verzögert auftritt, im Vergleich zu dem, was man normalerweise erwartet. Deswegen wird dies auch als „Delayed After Effect“ bezeichnet. Es ist wichtig, mit Sensibilität die Situation zu erfassen und zu verstehen, dass ein Meltdown auch dann auftreten kann, wenn der Overload möglicherweise schon Stunden zurückliegt.
Auswirkungen von Meltdowns und Shutdowns
Wie bereits erwähnt, variieren die Auswirkungen auf Autisten stark. Manche Autisten können überraschend aggressiv reagieren oder komplett verstummen und nicht mehr ansprechbar sein. Diese Auswirkungen sind für uns Autisten in der Regel sowohl geistig als auch körperlich erkennbar.
Körperlich kann es sich bei uns anfühlen, als hätte man einen Marathon absolviert. Der Körper ist völlig erschöpft und es dauert Tage, um sich davon zu erholen. Je besser die körperliche Fitness ist, desto schneller erholt sich der Körper, was relativ unkompliziert ist.
Der Geist hingegen benötigt Zeit, sehr viel Zeit. Aktuell gibt es leider keine Möglichkeit, die geistige Erholung schneller herbeizuführen. Ich z. B. esse dann sehr viel, meist sehr salzig/fettig oder ausgesprochen süße Lebensmittel. Dabei kommen gerne mal 3.000 – 4.000 Kalorien pro Tag zusammen, ohne dass wir zunehmen. Bei mir gab es sogar eine Phase, da habe ich trotz der überdurchschnittlich vielen Kalorien abgenommen.
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass man mit erheblichen Gehirnausfällen rechnen muss, die über einen Zeitraum von zwei bis drei Tagen auftreten können. Plötzlich vergisst man „unwichtige“ Informationen oder kann keine klaren Sätze mehr formulieren (Wortfindungsstörung). Natürlich funktioniert unser Gehirn noch, und alles Wichtige wird wie ein Schwamm aufgesogen. Daher ist es ratsam, das Gehirn vor unnötiger Anstrengung zu schützen.
Das Hören von Musik, Malen, Basteln oder andere Aktivitäten, die andere Hirnregionen beanspruchen oder entlasten, können hilfreich sein. Es ist jedoch ratsam, dies vorher mit dem Umfeld abzustimmen, um sicherzustellen, dass alle Seiten Bescheid wissen, warum man sich gerade zurückzieht.
Vermeiden solcher Situationen
Um solche Situationen zu vermeiden, ist es wichtig, als Außenstehender zu verstehen, was zu einem Overload und Meltdown führen kann.
Selbst in einem Einkaufszentrum, das für viele neurotypische Menschen bereits zu viele Reize bietet, wie Umgebungsmusik, Musik aus den einzelnen Geschäften, verschiedene Gerüche von Parfümerien und Imbissständen sowie die große Menschenmenge, kann für einen Autisten qualvoll sein. Hier ist ein Overload oder ein Meltdown vorprogrammiert.
Jeder Autist hat seine eigenen Strategien, um sich darauf vorzubereiten. Ich habe etwa immer meine ANC-Kopfhörer oder im Sommer meine ANC-In-Ear-Kopfhörer dabei. Zudem habe ich immer eine Packung Ohropax in meiner Tasche, zusammen mit einer Flasche Wasser zum Trinken, da ich festgestellt habe, während der Reizüberflutung einen großen Bedarf an neutraler Flüssigkeit zu haben. Viele Autisten tragen auch eine Sonnenbrille, um die visuellen Reize zu reduzieren.
Es gelten jedoch allgemeine Regeln zur Vorsorge, wie die Schaffung von Strukturen im Alltag und die Gewährung von Zeit für Regeneration. Macht Pausen, wenn ihr unterwegs seid – Pausen sind (nicht nur) für Autisten wichtig.
Es ist auch ratsam, im Nachhinein zu analysieren, wie es zu einem Overload oder Meltdown gekommen sein könnte und zu versuchen, ein deutliches Muster zu erkennen, welche Situationen zu einem Overload oder Meltdown führen können. Auf diese Weise können kritische Situationen vermieden werden.
Zusammenfassung
Liebe neurotypischen Menschen, wir Autisten erleben diese Art von Zusammenbrüchen nur, weil wir durch eure Welt in unserem Denken, Handeln und Fühlen, massivst beeinträchtigt werden.
Wir können teilweise 20 Dinge gleichzeitig wahrnehmen, wohingegen ihr nur 4 Dinge gleichzeitig wahrnehmen könnt. Eure Nachteile sorgen dafür, dass ihr entspannter durch das Leben gehen könnt. Unser Vorteil der besonderen Wahrnehmung sorgt dafür, dass wir bei zu viel Reizen überempfindlich sind.
Ich habe schon von vielen Leuten aus der neurotypischen Welt zu hören bekommen, dass es ihnen am Samstag in der Stadt beim Einkaufen zu viel war, das Einkaufszentrum einem Vergnügungspark gleichkommen und die Leute am Abend müde und ausgelaugt waren.
Eine Reizüberflutung betrifft uns alle, jedoch uns Autisten aufgrund unserer besonderen Wahrnehmung sehr viel schneller und die Auswirkungen sind sehr viel umfangreicher. Nur mit gemeinsamem Verständnis schaffen wir es, in dieser völlig mit Reizen überfluteten Welt gemeinsam gut leben zu können.
Quellen/Hinweise/Fußnoten:
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