Der Artikel wurde am 11.01.2023 aktuallisiert oder erweitert.
Dieser Brief wurde als Reaktion auf einen Zeitungsartikel der SZ 1 und einer extra angesetzten Live-Veranstaltung der SZ zum Thema Autismus an die SZ geschrieben, da hier nicht nur befremdlich, sondern auch falsch über das Thema Autismus gesprochen wurde.
Brief an die SZ
Liebe Redaktion der SZ,
Mit ihrem Artikel zu der Letzten Generation haben sie mit einer journalistisch schlecht abgelieferte Arbeit in einem Satz die Begriffe Neonazis, autistisch und Linksterroristen so zusammen gebracht, dass sich mir die Frage stellt, wie dieser Artikel die Qualitäts- und den Denk-Ansprüchen der SZ gerecht werden konnte.
Zitat: "… Es gab, von den Neonazis einmal abgesehen, seit der Nachkriegszeit wohl keine Gruppe jüngerer Menschen, die so gefühlskalt, unmenschlich und autistisch dachte und handelte wie die Linksterroristen. …" 1
Frau Dr. Christina Berndt, als Vorsitzende des Gesundheitsforums der Süddeutschen Zeitung, hat es geschafft mit Ihrem Denken und der Reichweite der SZ hunderttausende von Betroffen direkt vor das Schienbein zu treten. Es gäbe viel über das Bild zu schreiben, dass die SZ mit diesem fragwürdigen Text abgibt und der Reichweite die damit einhergeht. Kurz der Verantwortung.
Lassen Sie mich jedoch auf die Fragen eingehen, die mir als Betroffener besonders am Herzen liegt und sich auf die kommende Veranstaltung (Live Stream der SZ zu Autismus) 2 am Mittwoch 2 konzentriert: Das Thema Autismus, oder vielleicht auch neutraler neurodivers genannt.
Frage: Warum sind keine Betroffenen, also neurodivergente Menschen (mit Autismus) in der Fachrunde?
Könnten diese Menschen nicht selber und direkt ihre Sicht viel besser darstellen und auf Fragen eingehen, als Menschen, die sicherlich hochgebildet sind, aber eben nicht autistisch?
Kurz: diese Menschen können nur über Autismus sprechen, wir dagegen von Autismus.
Stattdessen werden aus meiner Sicht Professor*innen eingeladen, deren Denkweise nun augenscheinlich leider fachfremd, oder im letzten Jahrtausend hängen geblieben und somit nicht repräsentativ für 2022 sind:
- Prof. Dr. Michele Noterdaeme
- Prof. Dr. Dr. Kai Vogeley
- Prof. Dr. Peter Falkai
- Brigitte Wölfl (betroffene Mutter)
Übrigens die selben akademischen Teilnehmer wie auch schon bei "Das Kind in uns. Wie Kindheitserfahrungen unser späteres Leben prägen" vom 16.05.2022. Eine offensichtlich sehr fachkompetente Runde.
Vogeley spricht am 18.05.2022 immer noch von Krankheit, siehe fz-juelich.de , was inzwischen in Unmengen Publikationen widerlegt ist.
Noterdaeme schreibt 2017 in einem Folienvortrag von Mangelerscheinungen von Autisten, da sie sich nicht mit neurotypischen Menschen anfreunden, kommunizieren oder Beziehungen eingehen wollen, was diskriminierend ist, da dieses Thema nur einseitig richtig aus der Sicht der neurotypischen Menschen bewertet wird.
Falkai, den ich persönlich wegen seiner Einschätzung zu Jugenddepressionen und Jugendsuizid sehr schätze (…die Politik macht nichts… aus Grau ist keine Farbe), der sich mit dem Themenschwerpunkt Schizophrenie beschäftigt, den Anfängen des Autismus, die Dank Hr. Asperger und vielen anderen Fachleuten, wie Dr. Jac den Houting, schon lange aus dem Weg geräumt wurden.
Und einer betroffenen Mutter, deren Sohn ein Mensch mit Autismus ist. Die Geschichten dazu in oberbayerischen Tageszeitungen sind nett zu lesen, aber vermitteln ein Bild, dass den Autismus wohlwollend formuliert von einer neurotypisch eingeschränkten Seite zeigt. In den Artikeln werden für die Schwächen ca. 80% des Content genutzt und den Stärken lediglich geringe Textanteile gewidmet.
Zudem werden immer noch Zahlen von 0,6% bis 1% Betroffenen genannt – und als "hoch" bezeichnet, wobei auch hier Fachleute, deren Wissen wohl deutlich moderner ist, von wesentlich höheren Zahlen ausgehen, mal von einer Dunkelziffer abgesehen: Ich selber wurde 57 Jahre nicht "gezählt".
Neurotypische Menschen – und nicht Autisten – haben die vielen diffamierenden Artikel geschrieben, die inhaltlich äußerst fragwürdig sind und Sichten aus vergangenen Tagen weiter nach vorne tragen und Autisten diskreditieren.
Wäre es da nicht einmal an der Zeit, dass Autisten in der Runde sind und erzählen, wie gut es ihnen mit Ihrer Art zu Denken und zu Leben geht, welche Vorteile Menschen mit Autismus für das Arbeits- und Sozialleben mitbringen?
Wäre es nicht schön darüber zu diskutieren, was sich betroffene Autisten*innen von den Menschen wünschen, die sie in die Welt der neurotypischen Menschen inkludieren wollen, oder ob vielleicht eine andere Denkweise für alle Beteiligten viel größere Mehrwerte bringen könnte?
Wäre es nicht endlich mal Zeit, darüber zu sprechen, dass ca. die Hälfte der Menschen in Armut leben, 1% der Menschheit 99% des Gesamtvermögens besitzt – und wieviele neurotypischen Menschen dafür verantwortlich sind?
Wäre es nicht schön, sich einmal auf Augenhöhe auszutauschen?
Entgegen vieler Meinungen in meinem beruflichen, privaten und sozialen Umfeld (zB. Selbsthilfegruppe für Autisten) habe ich den Glauben, dass die SZ nach diesem Eigentor die Stärke hat, sich dem Thema zu stellen. Meine Frage(n) dazu haben Sie.
Viele Grüße
Quellen/Hinweise/Fußnoten:
Bild von Steve Buissinne auf Pixabay
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Ursprung auf Twitter – die SZ hatte den Kommentar gedruckt und hinter einer Paywal ↩ ↩
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Link zum Live Stream der SZ bei Youtube – Danach als Video. Nachtrag vom 05.01.2023: Das Video ist leider nicht mehr verfügbar und wurde gelöscht. Dennoch gibt es offizielle Möglichkeiten, über Archive den Stream zu erhalten. Schickt mir dazu Bitte eine Nachricht) ↩ ↩